Gelbe Telefonzelle
Die Einsamkeit treibt mich raus in die Schleier der Nacht
Unzählige Stunden haben ich und meine Kuscheldecke dort schon verbracht
In der gelben Telefonzelle unten an der Straßenecke
Ein Zufluchtsort, wo ich meine Wunden lecke, meine Unsicherheit verstecke
Abprallen lasse und ich mit tiefgefurchter Gramfalte auf Menschen-Rückzug schalte
Fühl ich mich gehirntorpediert, gefedert und geteert
Dann komm ich hierher und die Welt bleibt ausgesperrt
Verlangt es mir nach lindernder Ruhe und regenerierender Funk-Stille
Dann braucht es einigeln und abschirmen mit der dunkelsten Brille
In der gelben Telefonzelle unten an der Straßenecke
Sterb ich tausend beglückende Tode, brodle ich hot wie ein Geysir
Sitz hier offline und ganz allein in meinem heiligen knallgelben Schrein
Meine rastlosen Gedanken kreisen sich indes standesgemäß selber ein
Nägelkauend, wenig vertrauend, mich meiner Lebenslust selbst beklauend
Fühl ich mich - ziemlich kurios – bin ich erst hier, irgendwie gehalten und geborgen
In der gelben Telefonzelle unten an der Straßenecke, da verblassen meine Sorgen
Plötzlich öffnen sich vorher undenkbare Optionen und weite Räume
Hier fülle ich mit pulsierenden Leben meine luziden Wach-Träume
Als wär dieses, mein Lieblingsversteck
Eine Art Ur-Ur-Ahne eines Holodeck
Hier in meiner privaten Zeit-und-Raum-Maschine
Erheitert sich zusehends mein Blick und entgleist freudvoll meine Miene
Niemand stört mich an dieser Stelle – keiner verirrt sich hierher – alle tragen heute Handy
Unten an der Straßenecke die gelbe Telefonzelle – ist alles andere als trendy
Für mich jedoch der kunterbunteste Fleck in meinem sonst graugemischten Dreck
Eine Emotions-Drehscheibe – sie wirbelt mich in alle Sphären meiner Phantasien
Die alte Telefon-Wählscheibe spielt mir passend dazu die abgefahrensten Melodien
So verreise ich täglich in alle Winkel der Erde auf meinem einen Quadratmeter
In meiner Vorstellung verweilte ich gerade eben am Palast von Knossos im antiken Kreta
Kurz die griechische Mythologie abchecken - mich laben an Wein, Olivenbrot und Feta
Da gibt’s nur mich und diesen einen Augenblick - da existiert absolutely kein „später“
Bewege mich frei durch die entferntesten Galaxien komplett nach Lust und Laune
Ohne, dass ich es groß rausposaune – fasziniert ich die Kraft der Imagination bestaune
Würde ich es denen da draußen wissen lassen, was ich hier drinnen so alles anstelle
Die würden meinen ich hätte nicht alles Tassen, weder im Schrank noch in dieser Zelle
Feiere rauschende Feste, mit exotischen Wesen in verschiedensten Zeitepochen
365 Grad Losgelöstheit, geht tief unter die Haut, fährt ein in sämtliche lebensmüde Knochen
So lebe ich 2 Leben in Einem, two in one sozusagen - parallel neben einander
In dem Einen kriechend und verloren - in dem Anderen standhaft als Commander
So ein lebendig, g‘spüriges Dasein in purer Fiktion, in blanker Utopie vollgepumpt mit Energie
Lässt mich sogar im grauen Alltag lächeln, wo ich mir bestenfalls vorkomm wie eine Raubkopie
Die gelbe Telefonzelle unten an der Straßenecke – mein „Sinn des Lebens-Elixier“
Alles tutti completti – virtuell eingekühltes Bier und völlig reelles Klopapier – an nichts fehlt es hier
Beim nervenkitzelnden Canyoning in der eigenen verstopften Blutbahn
Beim lustvollen Gustieren und Flanieren auf der Reeperbahn befreit von jeglicher Scham
Nicht weit von hier gleich hinter dem dritten Mond meiner Raumstation
Stille ich bevorzugt den kleinen Hunger mit einer veganen Döner-Portion
Versenk mich in leckere Tropfenfrüchte – taumle von einer in die nächste Geschmacksexplosion
Treff mich zum Satsang in inneren Welten – meditier und gehör dabei ausschließlich mir
Geh nicht ans Telefon, heb nicht ab, hör nicht hin – bleib tief im Gespür
Meine gelbe Telefonzelle unten an der Straßenecke
Für die meisten irrelevant wie die in China umfallenden Reissäcke
Für mich mein selbsterwähltes VERrücktes Träume-Land
Bei Spiel, Spaß und Spannung in diesem Quadrat – bin ich absolut tiefenentspannt
Mein leuchtend gelber Mittelpunkt - die Basis meiner abenteuerlichen Heldenreisen
Euphorische Gefühle beim Anblick all der Möglichkeiten und dem Genuss der dargebotenen Götterspeisen
Von der Vision inspiriert - für immer auszuwandern ins Telefonzellen-Exil
Die gelbe Staatsbürgerschaft ein lohnendes Ziel? – mein ganz persönlicher Big-Deal?
Verlass ich dann nach Tagen - gefühlt bloß Stunden - die letzte ihrer Art in unserer Stadt
Schwindet meine Phantasie – reih mich wieder ein in die Mitläuferphalanx, stets bergab
Stimme erneut ein ins allgemeine Opfer-Gewinsel
Eines Tages wird sie nicht mehr sein meine geliebte gelbe Insel
Dann bin ich heimatlos – wie Treibholz im Sturm – am Leben, aber zu welchem Zwecke?
Bald kein Unterschlupf mehr für träumende Seelen mit ihrer Kuscheldecke
Die gelbe Telefonzelle unten an der Straßenecke - ein Symbol voller Lebensfreude
Ich kannte sie noch – erfuhr sie am eigenen Leib – womöglich bin ich der letzte Zeit- und Augenzeuge
Oder bin ich doch nicht alleine… und du kennst sie womöglich auch?
Text: Gerald Motz-Artner
Foto: Internet
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